Was mich quält

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Das einzige, – sagte er – was mir Qualen bereitet, sind die Gefahren, denen der Islam ausgesetzt ist. Damals kamen die Gefahren von außen, deshalb war der Widerstand leicht. Heute kommt die Gefahr von innen – der Wurm ist in den Leib eingedrungen. Jetzt ist der Widerstand schwieriger geworden. Ich fürchte, dass die Beschaffenheit der islamischen Gemeinschaft dem nicht standhalten kann. Sie glaubt, dass der Feind, welcher ihre Lebensader durchreißt und ihr Blut aussaugt, ihr Freund sei. Wenn das scharfsinnige Auge der islamischen Gemeinschaft so blind wird, ist die Glaubensfestung in Gefahr. Mein einziges Leid ist eben dieses Leid. Ansonsten habe ich nicht einmal die Zeit über Erschwernisse und Strapazen, denen meine Person ausgesetzt wird, nachzudenken. Würde ich doch solcher tausendfach ausgesetzt, aber dafür die Zukunft der Glaubensfestung in Sicherheit sein.

Die Welt durchlebt eine große spirituelle Krise. Eine Krankheit, eine Pest, eine Seuche, die in der westlichen Gesellschaft, deren geistige Grundlage erschüttert ist, geboren wurde, verbreitet sich auf der Erde. Mit welchem Heilmittel will die islamische Gemeinschaft dieser ansteckenden, verheerenden Krankheit gegenübertreten. Etwa mit den verdorbenen und heruntergekommenen unwahren Formeln der Philosophie? Oder vielmehr mit den taufrischen Glaubenswahrheiten der islamischen Gemeinschaft? Ich sehe die einflussreichen Persönlichkeiten in Unachtsamkeit. Die morschen Säulen des Unglaubens sind nicht imstande die Glaubensfestung zu tragen. Deshalb investiere ich meine ganze Zeit ausschließlich für den Glauben.

Sie verstehen die Risale-i Nur nicht (!) oder möchten sie nicht verstehen. Sie glauben, dass ich ein einfältiger Lehrer sei, der im Sumpf der Scholastik stecken geblieben ist. Ich habe mich mit allen positiven Wissenschaften, mit der modernen Naturwissenschaft und ihrer Philosophie befasst. In dieser Angelegenheit habe ich die kniffligsten Fragen gelöst und hierzu sogar einige Werke verfasst. Doch ich habe mit solchen Logik-Spielchen nichts am Hut und beachte nicht die Verschlagenheiten der Philosophie.

Ich verkünde das innere Leben, die spirituelle Existenz, das Gewissen und den Glauben der Gemeinschaft und beziehe mich dabei nur auf die Existenz und die Einheit Allahs und die Glaubensgrundlagen, welche der Koran aufstellt. Denn das ist die tragende Säule der islamischen Gemeinschaft. Wenn diese eines Tages wankt, dann gibt es keine Gemeinschaft mehr.

Sie fragen mich: „Wieso pöbelst du diesen und jenen an?“. Ich bin mir dessen nicht einmal bewusst. Vor mir türmt sich ein furchtbarer Brand auf, dessen Flammen den Himmel emporragen. In ihnen brennt mein Kind; mein Glaube, er ist in Brand geraten. Ich eile um dieses Feuer zu löschen, um meinen Glauben zu retten.

Was macht es da schon, wenn mich jemand auf diesem Wege versucht aufzuhalten und ich deshalb stolpere.
Ist denn dieses kleine Ereignis vor solch einem entsetzlichen Brand überhaupt nennenswert?

Kurzsichtige Gedanken, kurzsichtige Ideen.

Glauben sie denn etwa, dass ich ein selbstsüchtiger Mann sei, der versucht nur sich selbst zu retten.

Auf dem Weg den Glauben der Gemeinschaft zu retten, habe ich sowohl mein diesseitiges als auch mein jenseitiges Leben aufgeopfert.

In meinem Leben von über achtzig Jahren kenne ich nichts im Namen des weltlichen Vergnügens. Mein ganzes Leben verbrachte ich auf Kriegsplätzen, in Kerkern oder in Gefängnissen und vor Gerichtshöfen der Heimat. Es gibt keine Qual und keine Pein, die ich nicht erdulden musste. Vor dem Kriegsgericht wurde ich wie ein Schwerverbrecher behandelt; wie ein Ganove wurde ich von Ort zu Ort ins Exil verbannt. Zigmal wurde ich vergiftet und allerlei Beleidigungen ausgesetzt. Es gab Zeiten in denen ich den Tod tausendmal vor dem Leben vorgezogen habe. Wenn meine Religion mir den Suizid nicht untersagt hätte, wäre Said heute schon lange unter der Erde verwest.

Mein Charakter erträgt weder die Verachtung noch die Beschimpfung. Die Würde und der islamische Heldenmut verbieten es mir strengstens. Wenn ich in eine derartige Situation gerate, – wer auch immer mir gegenübersteht, und sei es auch der grausamste Tyrann, der blutdürstigste Kommandant des Feindes – ich würde mich nicht erniedrigen lassen, ja, vielmehr schlage ich ihm sein unrechtes Verhalten und seine Brutalität in sein Gesicht zurück. Ob er mich einkerkert oder zum Galgen führt ist für mich nicht weiter von Belang. Schließlich geschah dies auch. All dies habe ich erlebt. Hätte das Herz und das Gewissen des blutrünstigen Kommandanten noch einige Minuten gegen die Grausamkeit standhalten können, wäre Said hingerichtet und der Gruppe der Unschuldigen beigetreten. Nun, mein ganzes Leben verging mit solchen Mühen und Strapazen, solchen Katastrophen und Heimsuchungen.

Auf dem Pfade des Glaubens, der Glückseligkeit und der Sicherheit der Gemeinschaft habe ich mein Selbst, meine Welt aufgeopfert; es sei allen verziehen. Ich verfluche sie nicht einmal. Denn dadurch war die Risale-i Nur immerhin ein Mittel zur Errettung des Glaubens (vieler Menschen), deren genaue Zahl ich nicht kenne. Man sagt es seien einige Hunderttausend oder mehrere Millionen – der Staatsanwalt von Afyon sagte, es seien 500.000, vielleicht sind es noch mehr. Mit dem Tod hätte ich nur mich befreit, doch habe ich mit meinem Fortleben und dem Ertragen der Mühen und Strapazen dazu gedient, dass so viele ihren Glauben retten konnten. Allah sei hierfür tausendmal gelobt!

Hiernach habe ich für den Glauben und das Heil der Gemeinschaft mein Jenseits aufgeopfert.

Weder sehne ich mich nach dem Paradies noch fürchte ich die Hölle. Für den Glauben der türkischen Gesellschaft, bestehend aus 25 Millionen Menschen, möge nicht nur ein Said, sondern tausende Saids geopfert werden.
Wenn dieser unser Koran auf der Welt ohne Gemeinschaft verbliebe, so würde ich mir das Paradies nicht wünschen. Dann wäre auch dieser Ort für mich einem Kerker gleich. Würde ich den Glauben unserer Nation in Sicherheit wissen, ich wäre damit einverstanden hierfür in den Flammen des Höllenfeuers zu brennen. Denn während mein Körper brennt, würde mein Gesicht vor Freude strahlen.

Ein Gespräch zwischen Eşref Edip und Bediuzzaman Said Nursi (1952)